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SEITWÄRTS

Zur Einführung Stefanie Schneiders Ausstellung „Sidewinder“
von Gusztáv Hámos 04. April 2008

1111„And when I got to Amerika, I say it blow my mind“ singt Eric Burdon in sei- nem Lied „New York 1963 – America 1968“.1 „When I got to Amerika, I say it blow my mind“ diese Zeile könnte die Ausstellung von Stefanie Schneider inspiriert ha- ben. Ihr Titel „Sidewinder“ bedeutet „Kinnhacken“ übersetzt und ist ebenfalls der Name einer seitlich, sich windenden Klapperschlange. Das ist in gewisser Weise ein Hinweis auf den „Mind blow“.2 Sowohl Eric Burdon in den 60 Jahren, wie auch Stefanie Schneider im neuem Jahrtausend, gehen auf ihre Art und Weise ihrem amerikanischen Traum nach. Beide begeben sich in Gefahr (Burdon geht nach Harlem und Bronx3, Schneider in die Kalifornische Wüste), beide erfahren die USA körperlich und beide kommen zu einem ambivalenten Ergebnis, was das „Leben des amerikanischen Traumes“ betrifft.
1111Ich muß gestehen, daß mir Stefanie Schneiders kinematographische Foto- sequenzen auf Anhieb gefallen haben. Nicht „gefallen“, sondern sie befreien, er- heitern mich, verursachen ein angespanntes Glücksgefühl in mir. Wie man auf Deutsch sagen würde, in den Räumen der Ausstellung knistert es!4 Diese ange- nehme Anspannung wurde nur durch Mark Gisbourn Behauptung getrübt, daß Stefanie Schneider mit David Lynch vergleichbar wäre5. Bis lang war es nämlich so, daß die Filme von Lynch für mich Horror in reinster Form darstellten, der mich in den Kerker des verkrampften männlichen, weiß-amerikanischen Alptraums stößt. Also mich dorthin zwingt, wohin ich mich freiwillig niemals verirren würde; und wenn es irgend möglich ist, möchte ich derartige Zwangsneurosen von mir fernhalten. Kann es sein, daß ich bei Lynch etwas übersehen habe? Jetzt wo ich Schneiders Arbeiten ins Herz geschlossen habe, muß ich dann die Filme von Lynch auch lieben?
1111So schnell kann mich niemand davon überzeugen, daß die Filmwelt von David Lynch mit Stefanie Schneiders narrativen Fotoinstallationen verwandt ist. Ich sehe es so, daß das Universum der Stefanie Schneiders zu den Fantasmen von David Lynch im diametralen Gegensatz steht. So zum Beispiel der Lynchsche Film Noir hat immer eine Femme Fatale, ein Frauenbild also, das von der männli- chen Sexfantasie für die fleischliche Begierde geschaffen, aber für eine Seelisch- körperliche „echte“ Begegnung absolut ungeeignet ist6. Schneiders Frauen hingegen haben mit einer „Femme Fatale“ nichts zu tun. Sie sind aus Fleisch und Blut, ihre Begierde schein echt (beinahe dokumentarisch) zu sein. Aus ihrer Perspektive bildet sich nicht einmal das Verlangen nach einem „Homme Fatal“ heraus. Diese Frauen brauchen keine Fetisch-Fantasien! Die Protagonisten Schneiders Inszenierungen sind leidenschaftlich und haben keine Angst vor Schmutz und Dreck. Lynchs vielfältig verkomplizierte, fiktive Alpträume sind kli- nisch sauber. Stefanie läßt ihre Polaroidfilme fünf Jahre lang liegen, bevor sie sie in ihre Instantkamera steckt. Das Ergebnis ist fehlerhafte Filmentwicklung, daß das Dispositiv des Sofortbildes physisch vorzeigt.

1111Wir brauchen keinen besseren Beweis dafür, daß die Fotografie Bewegung NICHT zum Stillstand bringt und fixiert7, als das fotografische Verfahren des Polaroids. Wie Nadine Olonetzki in ihren Artikel „Polaroid - Die Maschine zum Lebensgefühl“ schreibt: „(...) schießt das Bild aus dem Suppenschlitzmaul der Polaroidkamera wie eine viereckige Zunge - und wird gierig herausgerissen. Man will das Foto sehen, man will sehen, wie es erscheint.“ Man kann aber nie sicher sein, wann der Entwicklungsprozeß abgeschlossen ist. Beziehungsweise man kann sicher sein, daß das soeben erscheinende Bild irgendwann auch wieder ver- schwinden wird. Diese Eigenschaft des Polaroids wird in Stefanie Schneiders Arbeit gründlich reflektiert. Das Dispositiv wird in einem Moment des Bild-Wer- dens und Bild-Vergehens mit der Mittelformatkamera dokumentiert, und damit verlängert sich dieser Momentzustand des Bildes erheblich.

1111Nicht nur die Zeit, sondern das Gedächtnis scheint eine wichtige Rolle in Schneiders Arbeit zu spielen. Die Bilder sind wie aus ihrer Erinnerung entsprun- gen. Wir wissen bloß nicht, ob sie sich an etwas erinnert, daß sich „wirklich“ ereignet hat, oder ist es die Erinnerung an einen Traum. Damit spricht sie ein zen- trales Thema der Wahrnehmung an. Sie erinnert uns daran, daß das Medium Fotografie mit unserem Medium Gehirn verwandt ist. Die Wahrnehmung - nach Henri Bergson - funktioniert nämlich so, daß wir Momente, die wir charakteristisch empfinden, aus der Realität in unser Hirn aufnehmen. Unser innerer Kinemato- graph nimmt diese „Momentbilder“ und reiht sie auf dem Grund unseres Erkennt- nisapparates liegen- den Werden auf. Um zu erinnern, oder zu erkennen, oder zu sprechen tun wir nichts weiter als diesen inneren Kinematographen in Tätigkeit zu setzen. Damit ist die Kinematographie ein wesentlicher Bestandteil unseres Gedächtnisses.8

1111Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Stefanie Schneider die Verbindung zwischen Fotografie und Film sucht. Aber sie weiß, daß die Tätigkeit ihres inneren Kinematographen alleine für den schöpferischen Prozeß nicht ausreicht. Wir spüren ihre ungebändigte Sehnsucht nach Liebe, die sie auf ihre Protagonisten überträgt. Die Schönheit ihrer Arbeit rührt also nicht von ihrer Leidenschaft allein, sondern, wie Platon schon im Dialog zwischen Sokrates und Diotima bemerk- te, kommt die Schöpfung, das Gute an sich, durch die Liebe.9



ANMERKUNGEN

1    Eric Burdon And The Animals, „House of the rising sun“, CD1, 10. „New York 1963- America 1968“, nur bei Zweitausendeins, CD is manufactured by PDO Hannover, Printed in Germany

2    Mind blow bedeutet geistig – auch in biochemischer Art – überwältigt zu sein. In dem Lied, „New York 1963- America 1968“, wird aber auch der „junge Präsident des Landes“ besungen dessen „Mind“ 1964 Buchstäblich aus seinem Schädel gepustet wurde.

3    Wie man dem Song „New York 1963- America 1968“ entnehmen kann, war in den 60-er Jahren nicht jeder Taxifahrer bereit in die völlig verslumten New Yorker Stadtteile Harlem oder Bronx zu fahren.

4    Nach dem deutschen Sprichwort: „Es hat zwischen den beiden geknistert, oder gefunkt“.
Das bedeutet, daß zwei Leute sich voneinander magisch, magnetisch angezogen fühlen.


5    Stefanie Schneider, „Wasteland“, erschienen bei Edition Braus, Wachter Verlag GmbH, Heidel- berg 2006, Foreword a speech by Mark Gisbourne (S. 5)

6    Slavoj Žižek: „The Art of the Ridiculous Sublime On David Lynch’s Lost Highway“, herausgegeben von Walter Simpson Center, for the Humanities, University of Washington Seattle, USA, 2000

7    Nadine Olonetzky „Die Maschine zum Lebensgefühl“ Mit dem Sofortbild bekam der Pop- Rausch sein Massenmedium. (S.40), Essay erschienen in „du“, Ausgabe: Juni 2002 / Heft Nr. 727

8    Henri Bergson: »Nous prenons des vues quasi instantanées sur la realité qui passe, et, comme elles sont caractéristique de cette realité, il nous suffit de les enfiler le long d’un devenir abstrait, uniforme, invisible, situé au fond de l’apparail de la connaissance... Perception, intellection, langage procèdent en général ainsi. (...) Qu’il s’agisse de penser le devenir, ou de l’exprimer, nous ne faisons guère autre chose qu’actionner une espèce de cinématographe intérieur.«

9    Platon, „Sokrates – Diotima 28. (S.84)“ in „Das Gastmahl“ oder „Von der Liebe“, übertragen und eingeleitet von Kurt Hildebrand, Philipp Reclam jun. Stuttgart, Universal-Bibliothek Nr. 927[2], durchgesehene Ausgabe 1979


Das wilde Leben
VON MICHAEL STOEBER

04. April 2008  |  Hannoversche Allgemeine Zeitung

Ein Mann und eine Frau fahren im offenen Cadillac durch die südkali-fornische Wüste. Der warme Wind spielt in den langen Haaren der Frau. Lässig hat der Mann seinen rechten Arm um ihre Schultern gelegt. Das- selbe Paar. Er sitzt in Jeans und weißem T-Shirt auf einem Hotelbett. Die Frau kniet vor ihm, nackt. Ihr Kopf ist in seinen Schoß getaucht. Eine andere Episode ­ erzählt als Sequenz in acht Bildern. Der Abend bricht an. Zwischen den Liebenden wandert eine Whiskeyflasche hin und her. Partytime. Solche und ähnliche Bilder haben wir schon Hunderte von Malen gesehen. Ihre Botschaft ist eindeutig: Lebe wild und gefährlich! Und: Finde deine Liebe und folge ihr! In ihnen verdichten sich modellhaft Phantasien und Sehnsüchte, die wir oft genug nur allzu gerne ausleben würden, ohne uns so richtig zu trauen. Auf Leinwand und Fotopapier agieren lauter Stellvertreter. Statt unserer erfahren sie den Rausch von Freiheit und Abenteuer.

 

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Die Heldin der Fotos von “Sidewinder" ­ der Name bedeutet Klapperschlan- ge und könnte charakteristischer nicht sein für den anarchisch narzissti- schen Unterstrom dieser Bilder ­ ist die Künstlerin selbst, Stefanie Schneider. Ihren Partner auf Zeit für diese Begegnung und Werkserie hat sie per Annonce im Internet gefunden. 1968 in Cuxhaven geboren, lebt und arbeitet Schneider heute in Los Angeles und Berlin. Ihre Aufnahmen sind Polaroids, die sie abfotografiert und vergrößert hat.

Der Effekt dieses künstlerischen Recyclings ist verblüffend. Die Farben der Bilder wirken wie ausgewaschen. Von hoher Künstlichkeit. Ihr Irrealismus lässt auch die Posen der Protagonisten nicht unangetastet. Die Inszenie- rung tritt deutlich hervor. Schneiders Bilder verführen und präsentieren zu- gleich die Instrumente ihrer Verführung. Das überalterte und unberechen- bare Polaroidmaterial, das ihnen zugrunde liegt, spiegelt unübersehbar beides: die Hartnäckigkeit und die Zerbrechlichkeit unserer Projektionen.

Ebenso sinnliche wie intelligente Werke. Nicht versäumen!

Eröffnung heute Abend, 19 Uhr, in der Galerie Drees, Weidendamm 15. Bis 31. Mai.


The Wild Life
by MICHAEL STOEBER

April 04, 2008  |  Hannoversche Allgemeine Zeitung

A man and a woman drive through the California desert in a Cadillac convertible. The warm wind plays with the long hair of the woman. The man has laid his right arm casually on her shoulders. The same couple. He sits in Jeans and white T-shirt on a hotel bed. The woman kneels in front of him, naked. Her head is buried in his lap. Another episode narrates in a sequence of eight pictures. The evening has begun. A bottle of whiskey is passed back and forth between the lovers. Party time. We have seen these and similar images hundreds of times. Their message is clear: Live wildly and dangerously! Find your love and follow it! Clustered within them in an exemplary manner are fantasies and desires which, often enough, we would gladly live out, without really daring to do so. Acting upon canvas and photographic paper are a host of proxies. Instead of us, it is they who experience the intoxication of freedom and adventure.

 

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The heroine of the photos from Sidewinder (the name refers to a rattlesnake and could not be more characteristic of the anarchic, narcissistic undercurrent of these images) is the artist herself, Stefanie Schneider. Through an ad in the Internet, she found her temporary partner for this encounter and work series. Born in 1968 in Cuxhaven, Schneider today lives and works in Los Angeles and Berlin. Her pictures are Polaroids which she has photographed and enlarged.


This artistic recycling has an astounding effect. The colors of the pictures seem bleached-out. Highly artificial. Their irrealism does not leave the poses of the protagonists unaffected. The staged aspect comes clearly to the fore. Schneider's images seduce and, at the same time, present the instruments of their seduction. The expired and unpredictable Polaroid material on which they are based mirrors in a highly visible manner both the stubbornness and the fragility of our projections.

These are sensual and intelligent works. Don't miss them!

Opening tonight at 7:00 p.m. at the Galerie Drees, Weidendamm 15. Until May 31.